Wie bereits angekündigt möchte ich meine Arbeit an dem Roman auch als Gelegenheit Nutzen, ein bereits seit einigen Jahren wartendes Vorhaben anzugehen: die Lektüre von und Beschäftigung mit Daniel Goldhagens Studie über die Täter des Holocausts.
Max Aue, bevor er zur detailreichen und schockierenden Darstellung, des im letzten Beitrag erwähnten Massakers von Babi Jar übergeht, hatte seine eigenen Überlegungen über die verschiedenen Tätercharaktere angestellt. Sich selbst hatte er dabei im Übrigen zunächst ausgelassen. Um mir selbst die nur schwer erträglichen Szenen dieses Romans „erklären" zu können, will ich nun die wohl umfassendste Studie, die über die Täter des Holocausts existiert, in Auszügen dokumentieren.
Daniel Jonah Goldhagen widerlegt im 15. Kapitel seines Buches mehrere Erklärungsmuster, mit denen, entweder Täter ihre persönliche Schuld zu relativieren oder auch Historiker in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen zu erklären versuchten, was eigentlich schier unmöglich zu verstehen erschien. Außerdem teilt er vier Handlungstypen nach den Kategorien, ob nach Befehl und/oder auf grausame Weise getötet wurde oder nicht.
Er stellt zunächst fest, dass die Deutschen den Juden, nicht nur in Ausnahmefällen, größeres Leid zugefügt hatten, als es den Befehlen nach notwendig wäre (1998: 441). Er wurde häufig sinnlos und zum bloßen Vergnügen gequält, erniedrigt, gefoltert und gemordet. Wie auch in Littells Roman dargestellt, wurden Fotos von den Torturen und Morden gemacht, mit denen stolz geprahlt wurde (1998: 443).
Ein erster Erklärungsansatz war, die Deutschen hätten auf Zwang hin gehandelt, aus Angst vor Bestrafung oder Hinrichtung bei Befehlsverweigerung. Goldhagen stellt ausführlich dar, dass keinerlei Beweise vorliegen, die solche Behauptungen stützen würden, obwohl während der Nürnberger Prozesse umfassend danach gesucht wurde. Dagegen liefert er mehrere Beweise dafür, dass es durchaus möglich war, sich dem Morden zu widersetzten. Kein Deutscher wurde demnach während des Holocaust hingerichtet oder schwer bestraft weil er den Mord an Juden verweigert hätte. Es lasse sich nachweisen, dass Tätern in allen Einheiten die Möglichkeiten einer Versetzung gegeben waren. Für die SS gab Himmler den ausdrücklichen Befehl, denjenigen, die sich den Strapazen nicht mehr gewachsen sahen, die Versetzung zu ermöglichen und sich in die Heimat versetzten zu lassen (1998: 445).
Eine zweite Behauptung, Menschen und insbesondere die Deutschen würden zu starkem Befehlsgehorsam neigen, lässt sich entkräften, da während der Weimarer Zeit durchaus subversive Strömungen vorhanden waren. Während der NS-Zeit wurde Gehorsam gerade dahingehend verweigert, dass gegen ausdrücklichen Befehl an der Folter und dem Mord an Juden teilgenommen wurde (1998: 446ff)! Gegen kirchenpolitisch Maßnahmen und das „Euthanasieprogramm" gab es Widerstand und Protest, wieder nicht auch gegen den Judenmord (1998: 448)?
Auch die Erklärungsansätze, die Deutschen hätten aus Karrierestreben „mitgemacht", die Vernichtungsmaschinerie wäre angeblich so fragmentiert, dass Einzelne den Umfang ihrer Taten gar nicht erfassen könnten, sowie den Versuch, die breite Mittäterschaft aus Gruppenzwang bzw. Gruppendruck zu erklären, widerlegt Goldhagen. Wäre die überwiegende Bevölkerung gegen die Judenvernichtung, würde der Gruppendruck schließlich dieser entgegenwirken und nicht andersherum(1998: 449)!
All diese konventionellen Erklärungsansätze würden das Wesentliche, das Spezifische des Holocaust weglassen, und die Taten der Deutschen so behandeln, als ob jedes andere Volk in ähnlicher Situation genauso gehandelt haben könnte. Jedoch sei gerade das Spezifische, die Kultur, Gesellschaft und Politik, die Identität der Deutschen als Volksgemeinschaft wesentlich zum Verständnis. Außerdem sei insbesondere auch die Identität „der Juden", deren Bild im Bewusstsein der Deutschen, entscheidend.
Nach Goldhagen lasse sich die Brutalität, die Grausamkeiten, die „ganz gewöhnliche Deutsche", auch ohne Befehl und nicht in Ausnahmen sondern in unzähliger Gleichartigkeit immer und immer wieder, im Umgang mit den Juden zeigten, nur erklären über einen „tiefsitzenden Haß, wie ihn kaum jemals ein Volk einem anderen gegenüber empfunden haben dürfte" (1998: 456).
„Zu einer solchen Interpretation gelangt man nur, wenn man von einem dämonisierenden Antisemitismus ausgeht, der in Deutschland eine bösartige rassistische Form angenommen und die kognitiven Modelle der Täter sowie der deutschen Gesellschaft insgesamt bestimmt hat. Die deutschen Täter waren demnach mit ihrem Tun einverstanden. Es handelte sich um Männer und Frauen, die ihren kulturell verwurzelten, eliminatorisch-antisemitischen Überzeugungen getreu handelten und den Massenmord für gerecht hielten" (1998: 460).
Die Deutschen waren also, nach Goldhagen, so sehr von ihrer völlig irrationalen Wahnvorstellung, „die Juden" seien tatsächlich der Inbegriff des Schlechten und Bösen überzeugt, dass sie in ihnen nicht mehr die Menschen als Opfer sondern nurmehr die zwingende Notwendigkeit ihrer Vernichtung zum Schutz des eigenen Volkes sahen. So waren die Juden also völlig den sonst geltenden moralischen Grundsätzen enthoben, die „Vergeltung" als gerechte Strafe für Dinge, die allein im kranken Bewusstsein der Deutschen Antisemiten existierten (1998: 465).
Goldhagen gibt als Beispiel für dieses umfassende kognitive Modell der Deutschen, die Gerichtsaussage eines Täters bei den Nürnberger Prozessen wieder: „Die Männer der Einsatzkommandos haben wirklich geglaubt, daß der Bolschewismus, der Deutschland in einen apokalyptischen Krieg verwickelt habe, ‚eine jüdische Erfindung darstelle und nur den Interessen des Judentums diente’" (1998: 460). Eine Aussage, der Max Aue in Littells Roman widerspricht. Dort ist an mehreren Stellen davon die Rede, dass Mitglieder der SS sehr wohl davon wüssten, dass der Bolschewismus nicht mit dem Judentum übereinstimme.
So wird für Goldhagen, das was in jeder Hinsicht nur als völlig perverser, irrationaler Sadismus erscheint, ein „rationales" Produkt des eliminatorischen Antisemitismus der Deutsche. Ein „Charakteristikum des Völkermords […] ist die Bereitwilligkeit, mit der die Deutschen, ob Täter oder nicht, verstanden, warum man von ihnen die Tötung der Juden erwartete" (1998: 472).
Soweit Goldhagens Analyse des deutschen Bewusstseins zur NS-Zeit bisher. Es handelt sich lediglich um eines von 16 Kapiteln aus einer ausführlichen Studie. Für mich selbst sind hier noch viele Fragen offen, also werde ich weiterlesen und hoffe so ein paar Antworten zu finden. Beispielsweise ist es - aus meiner heutigen Perspektive - schwer vorstellbar, wie wirklich eine gesamte Gesellschaft, oder zumindest ein so überwältigender Teil davon, dass die restliche Minderheit kein Gewicht im Geschehen und der späteren historischen Aufarbeitung haben konnte, derart, in eine zutiefst irrationale und erlogene Ideologie konditioniert werden konnte. Wie konnte es dazu kommen? Ich hoffe in den ersten drei Kapiteln von Goldhagens Buch einige Hinweise zu bekommen.
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Goldhagen, Daniel J. (1998): Hitlers willige Vollstrecker
2 Kommentare:
Goldhagen und Littell parallel zu lesen, ist erstaunlich. Littells Buch ist ein Roman. Bei aller Anknüpfung an real existierende Personen und historischen Tatsachen, ist die Figur Aue, aus dessen Sicht hier ausschliesslich erzählt wird, eine fiktive Figur und die Äusserungen in hohem Masse subjektiv. Goldhagen erhebt den Anspruch der Wissenschaftlichkeit. Beide Bücher haben – ausser das Thema – nichts miteinander zu tun.
Goldhagens These vom eleminatorischen Antisemitismus der Deutschen ist umstritten gewesen und ist es heute noch. Sie erklärt nicht, warum die SS in den "besetzten Gebieten" willfährige Helfer fand, die an Brutalität oft noch alles bisher dagewesene übertrafen. Mit vielem gehe ich dennoch ein Stück mit, auch wenn Goldhagen den Gruppendruck sowohl in Wehrmacht als auch in der SS unterschätzen mag. Problematisch wird er dann, wenn aus diesem pauschalen Urteil über den deutschen Antisemitismus ein Fatum konstruiert wird. Goldhagen entwickelt nämlich ein Kontinuum des deutschen Judenhasses praktisch vom Mittelalter an, welches sich dann im Nationalsozialismus "erfüllt". Weshalb es aber dann des Propagandatricks und –umwegs über den "Bolschewismus" bedarf, bleibt Goldhagen schuldig zu erklären.
Die Kollektivschuldthese der Deutschen feiert bei Goldhagen ihre Revitalisierung. Aue, die fiktive Figur, bietet in den "Wohlgesinnten" diese Lösung auch an. Für ihn ist Hitler der Vollstrecker des deutschen Volkswillens. Gleichzeitig verfestigt sich jedoch im Laufe des Buches eine eher gegenteilige Auffassung Aues.
Soviel erst einmal. Die Leseprojekte scheinen nicht fortgesetzt worden zu sein.
Ich finde es ist kein Argument gegen eine gleichzeitige Lektüre von Littels Roman und Goldhagens Studie, weil es sich beim einen um eine rein subjektive Fiktion handelt und beim anderen um eine wissenschaftliche Arbeit. Selbstverständlich ist mir das klar. Jedoch werden von Littel historische Fakten zum Rahmen einer fiktiven Erzählung gewählt, die mich und wohl auch die wenigsten anderen Leser und Leserinnen unbewegt lassen. Daher ist es meiner Meinung nach geradezu gefordert und angebracht sich an dieser Stelle, ob gleichzeitig, parallel oder nacheinander neben der Lektüre des Romans auch mit historisch wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema auseinanderzusetzen. Und da ich Goldhagens Buch ohnehin schon seit einer ganzen Weile lesen wollte, war mir dies eine gute Gelegenheit.
Sie haben übrigens Recht, die Leseprojekte sowie der Blog sind zwischenzeitlich wieder ein wenig eingeschlafen. Mir kamen mal wieder einige andere Dinge dazwischen. Ich gedenke jedoch beides bei Gelegenheit wieder fortzusetzen.
Was ich bisher von Goldhagens Buch gelesen habe, finde ich jedenfalls interessant und kann dem auch einiges abgewinnen. Anderes daran ist sicherlich auch zu hinterfragen. Die Reaktionen, die seine Studie unter Deutschen ausgeöst hatte (Briefe an Goldhagen) finde ich jedoch eher erschütternd.
Auf hoffentlich baldige Fortsetzung der Leseprojekte...
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